Es gibt Momente im Jahr, da verwandelt sich Wien in eine Art Paralleluniversum, in dem Tracht nicht mehr nur etwas für die steirische Hochzeitsgesellschaft oder das Oktoberfest in München ist. Einer dieser Momente: der Neustifter Kirtag, jener mehrtägige Ausnahmezustand im 19. Bezirk, bei dem selbst eingefleischte Döblinger Weinkenner – sonst streng aufgescheitelt, urban und latent grantig – kurz vergessen, dass sie eigentlich mit Chardonnay großgezogen wurden – und sich stattdessen in Dirndl und Lederhose werfen.

Plötzlich tragen sie alle Dirndl und Lederhose. Ja, alle. Auch jene Gestalten, die sonst schon beim Wort „Landluft“ einen Asthmaanfall vortäuschen. Man möchte fast meinen, irgendwo in Wien gäbe es ein geheimes Katakombenlager für Billigtrachten von Amazon, das nur für diese Tage geöffnet wird.

Das Faszinierende daran: Während sonst jeder zweite Wiener reflexartig „Kulturaneignung!“ ruft, wenn jemand Chopsticks falsch hält, gilt das beim Kirtag plötzlich nicht. Da dürfen Banker in frisch erworbenen „Lederhos’n made in Bangladesh“ zwischen Standl mit Stelze und Sturm stolpern, glaubend, sie wären ein waschechter Bergbauernsohn – bis sie beim achten Sturm auf dem Kopfsteinpflaster landen.

Die Lokalpolitik in Hochform

Besonders eindrucksvoll ist der Auftritt jener Spezies, die man sonst nur in der dritten Reihe des Gemeinderats kennt (wenn sie nicht gerade andere Termine haben oder am Klo „Clash of Clans“ spielen): die Lokalpolitiker. Man kennt diese Spezies sonst nur vom Kleingedruckten im Bezirksblatt, wo sie neben einem Scheckübergabefoto auftauchen. Doch hier, zwischen Sturm und Schmalzbrot, blühen sie auf wie Edelweiß im Kunstlicht.

Während sie im Alltag also eher unsichtbar agieren (und das auch gut so ist), erkennt man sie am Kirtag sofort:

  • Am zu engen Gilet, das beim dritten Achterl Wein um die Gnade eines Knopflochs bettelt.
  • Am selbstbewussten „Griaß Eich“, das in etwa so authentisch klingt wie ein Japaner beim Jodeln.
  • An einer Lederhose, die verdächtig nach „Prime – Lieferung in 24h“ aussieht.
  • Am Blick, der sagt, „ich hab mich gestern schon beim Sturm-Prozentsatz verschätzt“.
  • Und an der geradezu olympischen Disziplin, sich bei jedem Würstelstand mit jedem Standler fotografieren zu lassen, nur um am Montag ein Facebook-Album mit dem Titel „Mitten unter den Leuten“ hochladen zu können.

Sie alle eint dasselbe Ziel: „Bitte jemand ein Foto machen, bevor der Knopf am Gilet endgültig kapituliert.“

Während normale Menschen Sturm trinken, um das Leben zu vergessen, trinken sich hier Lokalpolitiker, die sonst unauffälliger sind als ein Hydrant in Meidling, in die 1. Reihe nach vorne. Namen? Bitte:

  • Franz „Hinterbankl“ Huber, seit 17 Jahren Ersatzmitglied im Gemeinderat, endlich im Rampenlicht – zumindest, solange er neben dem Maroni-Stand posiert.
  • Resi Kröpfel, Bezirksrätin für „Blumenbeete und Tierpatenschaften“, stolz im Dirndl, das so raschelt, als käme es frisch aus dem Karnevalskeller.
  • Otto Punz, Nachwuchshoffnungsträger der Bezirkspartei seit 1994, bekannt für das Talent, jedes Achterl Sturm in eine Grundsatzrede über „die Wichtigkeit der Leut’“ zu verwandeln.
  • Und nicht zu vergessen: Lieselotte „Selfie“ Brandtner, die binnen drei Tagen 427 Fotos mit Standlern schießt – und dabei jedes Mal wirkt, als hätte sie gerade entdeckt, dass Würstel aus Fleisch bestehen.

Diese Leute regeln sonst Mülltonnenstandorte. Hier aber tun sie so, als könnten sie ganze Bezirke zusammenhalten.

Der Kopf eines Mannes, der eine Trachtenhut mit großem Gamsbart auf hat, Stichwort Neustifter Kirtag.
(c) AdobeStock
Otto Punz hat sich für den heurigen Kirtag zusätzlich 7,90€ investiert und bei Amazon einen neuen Trachtenhut bestellt.

Programmplan für den Neustifter Kirtag (intern für Gemeinderäte\: innen)

  • 17:00 Uhr: Eröffnung durch den Bezirksvorsteher – inklusive fünfminütiger Rede über „Tradition“, die eigentlich nur eine Ode an den Sturm ist.
  • 18:00 Uhr: Politikertrachtenparade – Lederhose spannt, Dirndl knarzt, Applaus höflich.
  • 19:00 Uhr: Selfie-Wettbewerb: Wer schafft die meisten Fotos mit Würstelstandlern, ohne jemals ein Würstel anzufassen?
  • 20:00 Uhr: Kollektives Vergessen der Realität: Sturm, Spritzer und „Sweet Caroline“ auf der Ziehharmonika.
  • 22:00 Uhr: Heimweg über Kopfsteinpflaster = inoffizielles Rodeo.

Das große Wir-Gefühl im falschen Kostüm

Der Neustifter Kirtag ist kein Volksfest, sondern eine Massensimulation von Bodenständigkeit. Der Neustifter Kirtag ist aber nicht nur eine Trachtenmesse für Gelegenheits-Tiroler, sondern auch ein sozialer Ausgleichsmechanismus: Hier trifft der alteingesessene Grinzinger Villenbesitzer auf die Floridsdorfer Familie, die extra mit dem 35A angereist ist. Beide eint die gleiche Erkenntnis: Lederhose zwickt überall.

Trotzdem: Es funktioniert. Für ein paar Tage glaubt der Wiener\: die Wienerin tatsächlich, er\: sie sei Teil einer jahrhundertealten Landtradition – bevor er\: sie montags wieder ins Büro hetzt, Latte Macchiato bestellt und über die „hinterwäldlerischen Österreicher“ lästert.

Denn: Solange die Lokalpolitiker Selfies posten, die Knöpfe krachen und der Sturm rinnt wie Hochwasser in Krems, glaubt die Stadt tatsächlich für 72 Stunden, sie sei „ursprünglich“.

Und so bleibt am Ende die große Frage: Ist der Neustifter Kirtag gelebte Wiener Tradition oder einfach nur eine Gelegenheit, ein paar Tage lang so zu tun, als hätte man irgendwo oberhalb der Baumgrenze seine Kindheit verbracht? Antwort: Wurscht. Hauptsache der Sturm rinnt.

(Bilder: Image by G.C. from Pixabay, AdobeStock)

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